Als Friedel Wallenstein deportiert wurde

Als Friedel Wallenstein deportiert wurde

Schülerinnen und Schüler der ARS besuchen die Gedenkstätte Großmarkthalle

In diesem Schulhalbjahr hat der Fachbereich Gesellschaftslehre eine Gedenkstättenfahrt angeboten, die sich an alle Interessierten der Jahrgänge 7-10 richtete. Diese Veranstaltung wurde in Kooperation mit dem Verein Stolpersteine Pohlheim e.V. organisiert.

Das gemeinsame Ziel war die Gedenkstätte Großmarkthalle auf dem Gelände der Europäischen Zentralbank in Frankfurt.

In eindringlicher Weise haben die Teilnehmenden der Fahrt erfahren, dass die Großmarkthalle ein Ort ist, der mit der Geschichte einer jüdischen Familie aus Pohlheim verbunden ist. Am Beispiel des Schicksals der 10jährigen Friedel Wallenstein aus Pohlheim-Grüningen wurde aufgezeigt, wie es tausenden von anderen Juden ergangen ist, die durch das nationalsozialistische Regime aus Frankfurt deportiert und ermordet wurden.


Friedel Wallenstein lebte mit ihren Eltern in einem Fachwerkhaus in Grüningen in der heutigen Taunusstrasse. Nach den Novemberpogromen wurde es allen jüdischen Kindern verboten, öffentliche Schulen zu besuchen. Aus diesem Grund musste Friedel Wallenstein die Schule in Grüningen verlassen, besuchte daraufhin die Jüdische Bezirksschule in Bad Nauheim und wohnte dort vorübergehend im Internat. Als auch diese Schule geschlossen werden musste, zog Friedel zunächst zu ihren Eltern nach Gießen, dann wieder nach Grüningen, um letztlich nach Frankfurt zu fliehen, um in der Anonymität der Großstadt unterzutauchen. In Frankfurt war sie mit ihren Eltern und Großeltern im Baumweg 25 gemeldet. Von dort wurden sie mit weiteren 1052 jüdischen Menschen am 11.-12. November 1941 in der Großmarkthalle Frankfurt zusammengeführt und am 12. November in Waggons eingepfercht über Warschau und Bialystock nach Minsk deportiert und dort ermordet. Vermutlich haben nur zehn der über tausend Menschen die Deportation überlebt. Das Todesdatum von ihr, ihren Eltern und Großeltern ist nicht bekannt.

Die Großmarkthalle war in den 1920er Jahren bautechnisch auf höchstem Niveau konzipiert für den modernen Handel und reibungslosen Umschlag von Obst und Gemüse: mit praktischen Laderampen, großzügig dimensionierten Kühlkellern, Bahnanschlüssen mit überdachten Gleisen und einem eigenen Befehlsstellwerk. Dieses Gebäude nutzte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) und NSDAP-Gauleitung und seine Funktionalität ab 1941 für Massendeportationen von Juden. Die Wahl war auf diesen Ort gefallen, da er innenstadtnah und verkehrstechnisch günstig zwischen Hafenbahn und Ostbahnhof lag. Deshalb mietete die Gestapo den östlichen Kellerbereich als Sammelplatz zur Durchführung der Deportationen. Der Keller bot Schutz vor neugierigen Blicken auf das Verbrechen und notdürftig Platz für Hunderte Menschen. Frauen, Männer und Kinder wurden durch das eingesetzte Personal gedemütigt und körperlich misshandelt. Auch Friedel erging es so.

Letzter Habseligkeiten beraubt, zwang man sie schließlich an das Gleisfeld vor der Halle. Dort standen die Züge der Deutschen Reichsbahn für die Transporte in die Ghettos und Konzentrationslager bereit. Direkt nebenan ging der tägliche Marktbetrieb weiter. Dabei blieben die grausamen Vorgänge den dort Beschäftigten nicht verborgen. Bei der Großmarkthalle waren nicht nur Gestapo-Beamte und Parteifunktionäre im Einsatz. Auch „normale“ Polizisten, Finanz- und Eisenbahnbeamte sowie die Mitarbeiter verschiedener städtischer Ämter wirkten an den Deportationen mit. Die Stadtverwaltung sowie viele nicht-jüdische Bürgerinnen und Bürger profitierten vom zurückgelassenen Besitz der Verschleppten. Andere bezogen Wohnungen und Häuser, aus denen Juden vertrieben worden waren.


Mit dem Besuch der Gedenkstätte will der Fachbereich Gesellschaftslehre einen Beitrag dazu leisten, junge Menschen gegen Populismus und Antisemitismus zu stärken und dass sie sich für Menschenrechte, Pluralität und Demokratie einsetzen. Außerdem soll ihnen ermöglicht werden, sich aktiv mit der NS-Vergangenheit in ihrer unmittelbaren Umgebung auseinanderzusetzen. Die Verbrechen fanden nicht irgendwo statt, sondern direkt vor unserer Haustür.

Filiz Bulut
Fachleiterin GL

Spurensuche – Schüler besuchen Gedenkstätte
Gießener Allgemeine, 12.10.2023 (Seite 37)