Hoher Besuch an der Adolf-Reichwein-Schule

Dr. Rudolf Seiters referierte als Zeitzeuge vor Zehntklässlern und erinnerte an die Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands.

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Als vor 25 Jahren die Wiedervereinigung Deutschlands möglich wurde, war dies kein zu erwartendes Ereignis, sondern eher das Ergebnis umsichtigen Handelns standpunkttreuer Politiker, dramatischer Entwicklungen innerhalb der Sowjetunion und auch einer gehörigen Portion Glück. Die Zeichen standen auf Veränderung, aber wie sich die politische Großwetterlage tatsächlich auswirken würde, welche Konsequenzen sich aus dem Zerfall einer wirtschaftlich und gesellschaftlich maroden DDR, dem Freiheitshunger seiner 17 Millionen Bürgerinnen und Bürger hätten ergeben können und welche Chancen das Reformkonzept „Glasnost und Perestroika“ von Staats- und Parteichef Gorbatschow tatsächlich hatte- das konnte damals keiner vorhersagen.
Als Vorbereiter und Mitgestalter der Wiedervereinigung und damit als Zeitzeuge referierte kein geringer als Dr. Rudolf Seiters vor Zehntklässlern der Adolf-Reichwein-Schule.


In seinem Vortrag schlug der Referent einen Bogen von den ersten Jahren nach Kriegsende bis hin zu den Leistungen, Chancen und auch Problemen des wiedervereinigten Deutschland.
Möglich wurde der Vortrag, weil sich die Adolf-Reichwein-Schule um das Zeitzeugenprojekt der Hessischen Landesregierung beworben hatte. Beate Meilinger, Stufenleiterin 9/10 an der ARS, hatte hierfür die nötigen Vorarbeiten geleistet.
Seiters, der mehrere Jahre Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war und im deutschen Schicksalsjahr 1989 als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Kanzleramtes und später Bundesminister des Innern die Geschehnisse um den Mauerfall und die Wiedervereinigung hautnah miterlebt hatte, fesselte die aufmerksame Zuhörerschaft in der Aula der ARS mit einem Vortrag, der an Klarheit, Eloquenz und Anschaulichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.
Er erzählte u.a. von seinen Gesprächen mit schillernden Persönlichkeiten wie dem kürzlich verstorbenen DDR-Wirtschaftsfunktionär und Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski, ohne den der „Staat des real existierenden Sozialismus“ wahrscheinlich schon sehr viel früher bankrott gewesen wäre.
Dass die Schule einen politischen Hochkaräter zu Gast hatte, wurden den Schülerinnen und Schülern spätestens klar, als Seiters aus seiner vielfältigen Tätigkeit berichtete, die bis heute den vertraulichen Umgang mit Bundespräsident, Bundeskanzlerin, führenden Ministern sowie Altbundeskanzler Helmut Kohl und dem ehemaligen Außenminister Hans Dietrich Genscher einschließen. Mit Letzterem hatte er damals in der Prager Botschaft auf dem Balkon gestanden, als den wartenden Menschen ihre Ausreise verkündet wurde. Ein für ihn unvergessliches Erlebnis sei das gewesen, das sein Leben und seine politische Arbeit entscheidend mitgeprägt habe, so der Referent. Ohne vordergründige Emotion, wohl aber mit spürbarer innerer Bewegung führte Rudolf Seiters den Schülerinnen und Schüler jene Tage plastisch vor Augen.
Entsprechend aufmerksam war auch die junge Zuhörerschaft der ARS, die am Ende es etwa einstündigen Vortrags langanhaltenden Applaus spendete.
Was wohl geworden wäre, wenn Günter Schabowski am Abend des 9. November nicht durch sein unsicheres „sofort, unverzüglich“ einen Massenansturm von DDR-Bürgern auf die Grenze nach West-Berlin ausgelöst und damit den Mauerfall eingeleitet hätte, wollte eine Schülerin wissen. Seiters antwortete, dass der Zusammenbruch der DDR zwar nur noch eine Frage der Zeit gewesen sei, doch allein eine Überreaktion eines linientreuen Grenzsoldaten hätten die Geschehnisse in einen gewalttätigen Verlauf stürzen und eine Katastrophe auslösen können.
Seiters schilderte in diesem Zusammenhang auch die Skepsis der anderen europäischen Staaten auf die Pläne der Wiedervereinigung und berichtete von der „eisigen Stimmung“ bei den ersten Verhandlungen um die deutsche Einheit.
Seiters, der seit 2003 auch Präsident des Deutschen Roten Kreuzes ist, freute sich zu hören, dass es auch an der ARS einen Schulsanitätsdienst gibt.
Am Ende seines Besuchs verabschiedete sich der Hohe Gast von den Schülerinnen und Schülern mit einer herzlichen Bitte: „Geht wählen, lasst keine Wahl aus! Diejenigen, die nicht freiheitlich wählen durften, können euch sagen welch hohes Gut das Wahlrecht ist!“
Angesichts der skandalös niedrigen Wahlbeteiligung bei den jüngsten Wahlen im Landkreis Gießen ist dieser Appell sicher berechtigt!

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